EINUNDFÜNFZIG

Roman nickt und sieht mich unverwandt an, während er mir das Gegengift aus der Hand windet und sagt: »Wir brauchen etwas Spitzes.«

Ich blinzele verwirrt. »Wozu denn? Wenn das wirklich das Gegengift ist, wie du sagst, dann kann er es ja einfach trinken. Ich meine, es ist doch fertig, oder?« Unter der Last seines Blicks zieht sich mein Magen zusammen.

»Das ist das Gegengift. Es fehlt nur noch eine letzte Zutat, um es komplett zu machen.«

Ich schnappe hörbar nach Luft. Ich hätte wissen müssen, dass alles nicht so einfach sein kann, wenn Roman beteiligt ist. »Und das wäre?«, frage ich, wobei meine zittrige Stimme meine innere Unsicherheit widerspiegelt. »Was spielst du eigentlich für ein Spiel?«

»Na, na.« Er lächelt. »Keine Angst. Es ist nicht allzu kompliziert - und es dauert auch garantiert nicht stundenlang.« Er schüttelt den Kopf in Richtung Rayne. »Wir brauchen bloß ein, zwei Tropfen von deinem Blut. Das ist alles.«

Ich starre ihn an und verstehe nichts. Ich meine, inwiefern soll das auch nur den geringsten Unterschied zwischen Leben und Tod ausmachen?

Roman betrachtet mich eindringlich und beantwortet die Frage in meinem Kopf. »Um deinen unsterblichen Partner zu retten, muss er ein Gegengift einnehmen, das einen Tropfen vom Blut seiner wahren Liebe enthält. Glaub mir, es ist der einzige Weg.«

Ich schlucke schwer und habe keine Angst davor, mein Blut zu vergießen, aber ich habe Angst davor, zum Narren gehalten zu werden und Damen für immer zu verlieren.

»Du hast doch sicher keine Angst, dass du nicht Damens wahre große Liebe sein könntest, oder?«, fragt er, wobei sich seine Lippen kaum merklich verziehen. »Oder soll ich stattdessen lieber Stada anrufen?«

Ich greife nach einer herumliegenden Schere, ziele damit auf mein Handgelenk und will gerade hineinstechen, als Rayne schreit: »Ever, nein! Tu's nicht! Es ist ein Trick! Hör nicht auf ihn! Glaub ihm kein Wort!«

Ich schaue zu Damen hinüber, sehe, wie sich sein Brustkorb so mühsam hebt und senkt, dass ich keine Sekunde mehr verlieren darf. Im Grunde meines Herzens weiß ich, dass er nur noch Minuten hat, keine Stunden. Ich stoße fest mit der Schere zu, die scharfe Spitze durchstößt die Haut an meinem Handgelenk und dringt tief ein. Eine Blutfontäne schießt in die Luft, ehe die Schwerkraft einsetzt und sie zu Fall bringt. Rayne schreit auf, und der Laut ist so schrill, dass er alles andere übertönt. Roman kniet bereits neben mir und fängt mein Blut auf.

Obwohl mir flau und ein bisschen schwindelig wird, dauert es bloß ein paar Sekunden, bis meine Venen sich schließen und die Haut wieder heil ist. Und so schnappe ich mir die Flasche, ignoriere Raynes Proteste und durchbreche den Kreis. Ich schiebe sie beiseite, knie mich hin und lege Damen eine Hand in den Nacken, um ihn zum Trinken zu bringen. Sein Atem wird schwächer und schwächer, bis er zum völligen Stillstand kommt.

»NEIN!«, schreie ich. »Du darfst nicht sterben - du darfst mich nicht verlassen!« Ich zwinge ihm die Flüssigkeit die Kehle hinab, entschlossen, ihn zurückzuholen, ihn ins Leben zurückzubringen, genau wie er es einst bei mir getan hat.

Ich drücke ihn an mich und flehe innerlich um sein Überleben. Alles um mich herum versinkt, während ich mich nur auf Damen konzentriere, meinen einzigen wahren Seelenfreund, meinen ewigen Partner, meinen einzigen Geliebten, und ich weigere mich, Abschied zu nehmen, ich weigere mich, die Hoffnung aufzugeben. Als die Flasche leer ist, breche ich über seiner Brust zusammen, presse meine Lippen auf seine, hauche ihm meinen Atem ein, mein Sein, mein Leben. Dabei flüstere ich die Worte, die er einst zu mir gesagt hat: »Mach die Augen auf, und sieh mich an!«

Wieder und wieder ...

Bis er es schließlich tut.

»Damen!«, rufe ich weinend, während mir die Tränen über die Wangen laufen und auf sein Gesicht tropfen. »Oh, Gott sei Dank, du bist wieder da! Du hast mir ja so gefehlt! Ich liebe dich, und ich verspreche, dass ich dich nie wieder verlassen werde! Also, bitte verzeih mir, bitte!«

Zitternd schlägt er die Augen auf, bewegt mühsam die Lippen und artikuliert Worte, die ich nicht verstehe. Als ich mein Ohr an seine Lippen senke, voller Dankbarkeit, wieder mit ihm vereint zu sein, wird unser Wiedersehen durch lautes Klatschen unterbrochen.

Langsames, rhythmisches Klatschen von Roman, der jetzt direkt hinter mir steht. Er hat den Kreis durchbrochen, während Rayne in der anderen Ecke kauert.

»Bravo!«, ruft er mit spöttischer Miene und blickt amüsiert zwischen Damen und mir hin und her. »Gut gemacht, Ever. Ich muss sagen, das war wirklich alles sehr ... rührend.

Man wird nicht oft Zeuge eines so ergreifenden Wiedersehens.«

Ich schlucke schwer. Mir zittern die Hände, in meinem Magen kribbelt es, und ich frage mich, was er wohl im Schilde führt. Ich meine, Damen lebt, das Gegengift hat gewirkt, was kann also noch kommen?

Ich schaue zu Damen hinüber, verfolge das regelmäßige Heben und Senken seines Brustkorbs, während er wieder einschläft, und werfe einen Blick auf Rayne, die mich mit weit aufgerissenen Augen und fassungsloser Miene ansieht.

Doch als ich mich Roman zuwende, bin ich sicher, dass er nur einen letzten Witz machen, lächerlicherweise noch einmal den Draufgänger geben will, jetzt, da Damen gerettet ist. »Und, willst du jetzt mich zur Strecke bringen? Geht es darum?«, sage ich und bereite mich innerlich darauf vor, ihn notfalls zu überwältigen.

Doch er schüttelt nur den Kopf und lacht. »Warum sollte ich? Warum sollte ich mich um ein nagelneues Vergnügen bringen, das gerade erst begonnen hat?«

Ich erstarre und spüre, wie die Panik in mir aufsteigt, versuche jedoch, mir nichts anmerken zu lassen.

»Ich wusste gar nicht, dass du so leicht zu überreden, so berechenbar bist, aber das ist eben die Liebe, was? Sie macht einen ein bisschen verrückt, ein bisschen impulsiv, ja sogar irrational, findest du nicht auch?«

Ich kneife die Augen zusammen und habe zwar keine Ahnung, worauf er hinaus will, doch ich weiß, es kann nichts Gutes sein.

»Trotzdem ist es wirklich erstaunlich, wie schnell du darauf reingefallen bist. Ohne jeden Widerstand. Mal im Ernst, Ever, du hast dich gerade selbst aufgeschlitzt, ohne irgendwelche Fragen zu stellen. Womit ich wieder bei meinem ursprünglichen Punkt wäre, nämlich dass man nie die Macht der Liebe unterschätzen soll - oder war es in deinem Fall vielleicht das schlechte Gewissen? Das weißt nur du selbst.«

Ich starre ihn an und beginne langsam eine entsetzliche Wahrheit zu begreifen, während mir klar wird, dass ich einen schweren Fehler gemacht habe - und irgendwie überlistet worden bin.

»Du warst so begierig darauf, dein Leben für seines zu opfern, so überaus bereit, alles zu tun, um ihn zu retten - dass alles ganz reibungslos lief, viel einfacher, als ich erwartet habe. Aber, offen gestanden, weiß ich, was in dir vorgeht. Ich hätte das Gleiche für Drina getan, wenn ich nur Gelegenheit dazu gehabt hätte.« Er funkelt mich an, die Lider so dicht geschlossen, dass seine Augen nur noch zwei wütende Schlitze aus Finsternis sind. »Aber da wir bereits wissen, wie das geendet hat, möchtest du sicher auch wissen, wie das hier endet, oder?«

Ich sehe abermals zu Damen hinüber, vergewissere mich, dass er noch atmet, und beobachte seinen Schlaf, während Roman weiterspricht. »Ja, er lebt noch, zerbrich dir bloß nicht den hübschen Kopf darüber. Und nur damit du's weißt, er wird höchstwahrscheinlich noch viele, viele, viele Jahre so bleiben. Ich habe nicht vor, ihm erneut nach dem Leben zu trachten, also keine Angst. Im Grunde war es überhaupt nie meine Absicht, einen von euch umzubringen, ganz egal, was du gedacht hast. Aber in aller Fairness muss ich dich doch darauf aufmerksam machen, dass dieses ganze Glück seinen Preis hat.«

»Was für einen Preis?«, flüstere ich, den Blick starr auf Roman gerichtet, da ich keine Ahnung habe, was er wollen könnte außer Drina, die bereits tot ist. Außerdem - koste es, was es wolle, ich werde den Preis bezahlen. Wenn es heißt, dass ich Damen wiederbekomme, tue ich alles, was verlangt wird.

»Jetzt hab ich dich verschreckt«, säuselt er und schüttelt den Kopf. »Aber ich habe dir doch schon versichert, dass Damen wieder gesund wird. Ja, sogar mehr als gesund. Er wird in null Komma nichts so gut wie neu sein. Schau ihn dir nur an. Du siehst doch, dass er wieder Farbe gekriegt hat und allmählich zunimmt, oder? Bald wird er wieder der gut aussehende, knackige junge Typ sein, von dem du dir einbildest, ihn so sehr zu lieben, dass du alles tun würdest, um ihn zu retten, ohne irgendwelche Fragen zu stellen.«

»Komm mal auf den Punkt«, sage ich, während ich ihn nach wie vor fixiere und mich darüber ärgere, dass diese aus dem Ruder gelaufenen Unsterblichen unbedingt jeden Moment im Mittelpunkt stehen müssen.

»O nein.« Er schüttelt den Kopf. »Ich habe jahrelang auf diesen Augenblick gewartet und lasse mich jetzt nicht hetzen. Weißt du, Damen und ich kennen uns schon sehr lange. Schon aus Florenz, wo alles anfing und wir uns zum ersten Mal gesehen haben.« Als er meinen Gesichtsausdruck sieht, fügt er hinzu: »Ja, ich war auch ein Waisenkind, das jüngste von allen, und als er mich vor der Pest gerettet hat, habe ich ihn wie einen Vater betrachtet.«

»Womit Drina deine Mutter wäre?«, frage ich, woraufhin sein Blick erst hart und dann wieder weich wird.

»Kaum.« Er lächelt. »Ich habe Drina geliebt, das gebe ich gerne zu. Ich habe sie von ganzem Herzen geliebt. Genauso, wie du ihn zu lieben glaubst.« Er nickt zu Damen hinüber, der inzwischen wieder so aussieht wie zu der Zeit, als wir uns kennen gelernt haben. »Ich habe sie aus tiefster Seele geliebt und hätte alles für sie getan - ich hätte sie nie verlassen, so wie du ihn.«

Ich schlucke schwer und weiß, dass ich das verdient habe.

»Aber es ging immer nur um Damen. Immer. Nur. Um. Damen. Sie hatte nichts anderes im Sinn als ihn. Hat nur ihn gesehen. Bis er dich - zum ersten Mal - kennen gelernt hat und Drina sich mir zugewandt hat.« Er lächelt kurz, aber das vergeht rasch wieder, als er sagt: »Als guten Freund« und das Wort »Freund« quasi ausspuckt. »Und Kameraden. Und damit sie eine starke Schulter hat, an der sie sich ausheulen konnte.« Er grollt. »Ich hätte ihr jeden Wunsch erfüllt. Sie hätte alles von mir haben könnten, doch sie hatte ja bereits alles, und das Einzige, was sie wollte, war das Einzige, was ich ihr nicht schenken konnte, nicht schenken wollte - nämlich den verfluchten Damen.« Er schüttelt den Kopf. »Und zu Drinas Pech wollte Damen nur dich. Und so hat es angefangen - eine Liebesgeschichte über vierhundert Jahre, in der jeder von uns unermüdlich gekämpft hat, getrieben und ohne je die Hoffnung aufzugeben, bis ich dazu gezwungen wurde, weil du sie umgebracht hast, womit garantiert war, dass wir nie vereint sein würden. Und unsere Liebe nie bekannt wurde.«

»Du hast gewusst, dass ich sie umgebracht habe?« Ich schnappe nach Luft. »Die ganze Zeit?«

Er verdreht die Augen. »Stell dir vor!« Dabei lacht er und gibt eine perfekte Parodie von Stada im schlimmsten Zickenmodus ab. »Ich habe alles geplant, obwohl ich sagen muss, dass du mich wirklich verblüfft hast, als du ihn so sang- und klanglos verlassen hast. Ich habe dich unterschätzt, Ever. Ganz ehrlich. Aber trotzdem habe ich an meinen Plänen festgehalten. Ich habe Ava gesagt, dass du zurückkommen würdest.«

Ava.

Ich sehe ihn mit großen Augen an und will gar nicht unbedingt wissen, was mit dem einzigen Menschen passiert ist, dem ich glaubte, vertrauen zu können.

»Ja, deine gute Freundin Ava. Die Einzige, auf die du zählen konntest, stimmt's?« Er nickt. »Tja, zufälligerweise hat sie mir mal wahrgesagt, sogar ziemlich gut, und dann sind wir eben in Kontakt geblieben. Weißt du, dass sie praktisch im selben Moment, als du gegangen bist, abgehauen ist und das ganze Elixier mitgenommen hat? Sie hat Damen allein in diesem Raum liegen lassen, wo er verletzlich und wehrlos auf mich gewartet hat. Sie ist nicht einmal lange genug geblieben, um zu sehen, ob deine kleine Theorie zutreffend war, weil sie sich gesagt hat, dass du längst weg bist und sowieso nie erfahren wirst, wie es ausgegangen ist. Du solltest dir wirklich genauer überlegen, wem du vertraust, Ever. Sei nicht so naiv!«

Ich zucke die Achseln. Jetzt kann ich ohnehin nichts mehr machen. Ich kann es nicht ungeschehen machen, ich kann die Vergangenheit nicht verändern, das Einzige, was ich jetzt noch beeinflussen kann, ist, wie es weitergeht.

»Ach, und ich habe es ja so genossen, wie du immer wieder auf mein Handgelenk gespäht und nach meinem Ouroboros-Tattoo gesucht hast.« Er lacht. »Du konntest ja nicht wissen, dass wir es tragen, wo wir wollen, und ich trage meines am Hals.«

Schweigend stehe ich da und hoffe darauf, mehr zu erfahren. Damen wusste ja nicht einmal, dass es aus dem Ruder gelaufene Unsterbliche gibt, bis Drina bösartig wurde.

»Ich habe damit angefangen.« Er nickt und legt sich eine Hand aufs Herz. »Ich bin der Gründervater des Stamms der abtrünnigen Unsterblichen. Und es stimmt zwar, dass dein Freund Damen uns allen den ersten Schluck gegeben hat, aber als die Wirkung allmählich nachließ, hat er uns altern und welken lassen und sich geweigert, uns noch mehr zu geben.«

Ich verdrehe nur die Augen. Jemandem ein mehr als hundert Jahre langes Leben zu garantieren ist nichts, was ich als egoistisch bezeichnen würde.

»Und da habe ich zu experimentieren begonnen und bei den größten Alchemisten der Welt gelernt, bis ich Damens Werk übertroffen hatte.«

»Das nennst du einen Triumph? Bösartig zu werden? Nach Gutdünken Leben zu nehmen und zu geben? Gott zu spielen?«

»Ich tue, was ich tun muss.« Er zuckt die Achseln und betrachtet seine Fingernägel. »Wenigstens habe ich die restlichen Waisen nicht verkommen lassen. Im Gegensatz zu Damen waren sie mir wichtig genug, um sie ausfindig zu machen und zu retten. Und ja, hin und wieder rekrutiere ich jemand Neuen. Aber ich versichere dir, den Unschuldigen wird kein Härchen gekrümmt, nur denen, die es verdient haben.«

Als sich unsere Blicke begegnen, wende ich mich rasch ab. Damen und ich hätten es kommen sehen müssen, wir hätten nicht davon ausgehen dürfen, dass mit Drina alles erledigt war.

»Also stell dir nur meine Überraschung vor, als ich hier auftauche und diese - diese kleine Göre hier antreffe, wie sie in ihrem putzigen Zauberkreis mit Damen kuschelt, während ihr gruseliger Zwilling durch die Gegend rennt und versucht, vor Einbruch der Nacht ein Gegengift zu brauen.« Roman lacht. »Und sie war sogar erfolgreich. Du hättest warten sollen, Ever. Du hättest den Kreis nicht durchbrechen sollen. Die beiden haben wesentlich mehr Vertrauen verdient, als du ihnen zu schenken bereit warst, aber wie gesagt, du neigst leider dazu, den Falschen zu vertrauen. Jedenfalls habe ich die ganze Zeit hier gesessen und gewartet, dass du endlich auftauchst und das Schutzsiegel durchbrichst. Ich wusste nämlich, dass du das tun wirst.«

»Warum?« Ich schaue zu Damen und dann zu Rayne, die nach wie vor in der Ecke kauert und sich vor Angst nicht zu regen wagt. »Was spielt das schon für eine Rolle?«

»Tja, genau das hat ihn umgebracht.« Er zuckt die Achseln. »Er hätte noch tagelang leben können, wenn du nicht in den Kreis eingebrochen wärst. Zu deinem Glück hatte ich das Gegengift bei der Hand, um ihn zurückzuholen. Und obwohl es seinen Preis kostet, und zwar einen gewaltig hohen Preis, ist geschehen eben geschehen, nicht wahr? Und jetzt gibt es kein Zurück mehr. Kein. Zurück. Das verstehst du doch inzwischen besser als jeder andere, oder?«

»Es reicht«, sage ich und balle die Hände zu Fäusten. Eigentlich sollte ich ihn jetzt aus dem Weg schaffen, ihn ein für alle Mal eliminieren. Ich meine, Damen ist in Sicherheit, Roman wird nicht mehr gebraucht, also was soll es schon schaden?

Aber ich kann nicht. Es ist nicht richtig. Damen ist in Sicherheit. Und ich kann nicht einfach Leute eliminieren, nur weil ich sie für schlecht halte. Ich darf meine Macht nicht in dieser Form missbrauchen. Wem viel gegeben wurde, von dem wird viel zurückgefordert werden und so weiter. Also löse ich die Fäuste und lockere die Finger.

»Eine kluge Entscheidung. Du willst doch nichts überstürzen, obwohl du bald dazu versucht sein wirst. Denn weißt du, Ever, obwohl Damen sich bald erholt haben und rundum makellos und gesund und im Grunde alles sein wird, was du dir von ihm erträumst, wird das die ganze Sache dummerweise nur noch schwieriger machen, wenn du begreifst, dass ihr niemals zusammen sein könnt.«

Ich sehe ihn wütend an, weigere mich, ihm zu glauben. Damen wird weiterleben - ich werde weiterleben -, also was könnte uns wohl trennen?

»Du glaubst mir nicht? Schön, macht nur weiter, vollzieht eure Liebe und findet es selbst heraus. Ist mir doch egal. Meine Loyalität gegenüber Damen ist schon seit Jahrhunderten beendet. Ich habe nicht die geringsten Gewissensbisse, wenn du mit ihm schläfst und er daran stirbt.« Er lächelt und wendet den Blick nicht von mir ab, und als er meine ungläubige Miene sieht, lacht er laut los. Sein Lachen ist so mächtig, dass es die Zimmerwände erbeben lässt, ehe es sich wie eine Decke der Verdammnis auf uns herabsenkt.

»Habe ich dich je angelogen, Ever? Na los, überleg mal. Ich warte. Bin ich nicht immer ehrlich gewesen? Oh, sicher, ich habe mir vielleicht ein paar kleinere, unwichtigere Details für zuletzt aufgespart, was - auch wenn es ziemlich gemein von mir ist - den Spaß einfach enorm steigert. Aber jetzt sind wir am Punkt der schonungslosen Offenheit angelangt, also möchte ich absolut klarstellen, dass ihr beiden nie zusammen sein könnt. Keinerlei Austausch von DNA. Und falls du noch immer nicht kapierst, was das heißt, dann erkläre ich dir gern, dass ihr niemals irgendwelche Körperflüssigkeiten austauschen dürft. Und falls du dafür noch eine Übersetzung brauchst, tja, das heißt, dass ihr euch nicht küssen oder lecken oder euch gegenseitig in den Mund spucken oder euer Elixier aus derselben Flasche trinken dürft - ach, und natürlich dürft ihr auch das nicht tun, was ihr bisher noch nicht getan habt. Mann, du darfst nicht mal an seiner Schulter darüber weinen, dass ihr nicht tun dürft, was ihr noch nicht getan habt. Kurz gesagt, ihr dürft überhaupt nichts machen. Oder zumindest nicht miteinander. Wenn ihr es doch tut, muss Damen sterben.«

»Das glaube ich dir nicht«, sage ich, während mein Herz rast und meine Handflächen schweißnass sind. »Wie soll das möglich sein?«

»Tja, auch wenn ich von Beruf weder Arzt noch Naturwissenschaftler bin, habe ich doch seinerzeit bei den Größten ihrer Zunft studiert. Sagen dir die Namen Albert Einstein, Max Planck, Sir Isaac Newton oder Galileo Galilei irgendwas?«

Ich zucke die Achseln und wünschte, er würde das Name-Dropping sein lassen und Klartext reden.

»Also, ganz einfach ausgedrückt, darf ich dir sagen, dass das Gegengift allein ihn bereits gerettet hätte, weil es die Rezeptoren daran hindert, weiterhin gealterte und beschädigte Zellen zu vervielfachen. Aber dadurch, dass wir dein Blut dazugegeben haben, haben wir dafür gesorgt, dass jede zukünftige Gabe deiner DNA sie wieder aktivieren wird, wodurch sich der ganze Prozess umkehrt und ihn tötet. Ihr dürft also niemals miteinander schlafen. Niemals. Verstanden? Tut ihr es doch, muss Damen sterben. Und jetzt, da ich es dir gesagt habe, bleibt alles Weitere dir überlassen.«

Ich blicke zu Boden, hadere damit, was ich getan habe, und frage mich, wie ich so dumm sein konnte, ihm zu vertrauen. Und so höre ich kaum zu, als er sagt: »Und wenn du mir nicht glaubst, dann mach ruhig, stürz dich auf ihn und probier's aus. Aber wenn er dann umkippt, komm bloß nicht zu mir und heul mir was vor.«

Wir fixieren einander mit Blicken, und genau wie an dem Tag an den Lunchtischen in der Schule werde ich in den Abgrund seines Geistes gezogen. Ich spüre seine Sehnsucht nach Drina, ihre Sehnsucht nach Damen, dessen Sehnsucht nach mir, meine Sehnsucht nach zu Hause, und weiß, dass all das zur jetzigen Situation geführt hat.

Ich schüttele den Kopf und löse mich aus Romans Bann, als er plötzlich sagt: »Oh, schau mal, er wacht auf! Und er sieht so gut und sexy aus wie immer. Genieß das Wiedersehen, Schätzchen, aber denk daran, genieß es nicht zu sehr!«

Ich werfe einen Blick nach hinten und sehe, wie Damen sich langsam zu regen beginnt, wie er sich reckt und sich die Augen reibt, ehe ich auf Roman losgehe, mit dem Wunsch, ihm wehzutun, ihn zu zerstören und ihn für all seine Taten büßen zu lassen.

Doch er lacht nur, während er mir tänzelnd ausweicht und zur Tür geht. »Glaub mir, das solltest du dir lieber verkneifen. Vielleicht brauchst du mich eines Tages noch.«

Wutschnaubend stehe ich vor ihm und würde ihm am liebsten die Faust in sein verletzlichstes Chakra rammen und zusehen, wie er für immer verschwindet.

»Ich weiß, dass du mir jetzt nicht glaubst, aber denk doch mal einen Augenblick darüber nach. Jetzt, da du nicht mehr mit Damen knutschen kannst, wirst du dich sehr bald sehr einsam fühlen. Und da ich stolz auf mein versöhnliches Wesen bin, wäre ich nur allzu gerne bereit, die Lücke zu füllen.«

Ich kneife die Augen zusammen und hebe die Faust.

»Und dann wäre da noch die kleine, bedeutungslose Tatsache, dass es ja auch ein Gegengift für das Gegengift geben könnte ... Aber da ich es kreiert habe, kann nur ich sicher wissen, ob das stimmt. Wenn du also mich vernichtest, vernichtest du jegliche Hoffnung darauf, dass ihr zwei je zusammen sein könnt. Willst du das Risiko eingehen?«

Wir stehen da, auf die schrecklichste Weise ineinander verstrickt, und fixieren uns reglos mit Blicken, bis Damen meinen Namen ruft.

Ich drehe mich um und sehe nur noch ihn. Zu seiner gewohnten Schönheit zurückgekehrt, erhebt er sich von dem Futon und ich laufe in seine Arme. Ich spüre seine wundervolle Wärme, als er sich an mich drückt und mir wie früher in die Augen sieht - als wäre ich das Allerwichtigste in seiner Welt.

Ich vergrabe das Gesicht an seiner Brust, seiner Schulter, seinem Hals, und mein gesamter Körper wird heiß und kribbelt, während ich immer wieder seinen Namen flüstere, mit den Lippen über den Stoff seines Baumwollhemds fahre und seine Wärme, seine Kraft in mich aufnehme und mich frage, wie ich je die Worte dafür finden soll zu gestehen, was ich Schreckliches getan habe.

»Was ist denn passiert?«, fragt er, ohne den Blick von mir zu wenden, als er sich losmacht. »Alles in Ordnung?«

Ich sehe mich um und stelle fest, dass Roman und Rayne verschwunden sind. Dann sehe ich ihm in die tiefen, dunklen Augen und sage: »Weißt du es nicht mehr?«

Er schüttelt den Kopf.

»Gar nichts?«

Er zuckt die Achseln. »Das Letzte, woran ich mich erinnere, ist Freitagabend, im Theater. Aber danach ...« Er blinzelt. »Wo sind wir hier? Das ist doch nicht das Montage?«

Ich lehne mich an ihn, während wir uns auf den Weg zur Tür machen. Mir ist klar, dass ich es ihm sagen muss - und zwar eher früher als später -, doch ich will es noch so lange wie möglich hinausschieben. Zuerst will ich die Tatsache genießen, dass er wieder da ist, dass er heil und gesund ist und wir wieder zusammen sind. Wir steigen die Stufen hinunter, und ich schließe mein Auto auf, ehe ich sage: »Du warst krank. Sehr krank. Aber jetzt geht es dir besser. Es ist eine lange Geschichte, also ...« Ich stecke den Schlüssel in die Zündung, während er mir eine Hand aufs Knie legt.

»Und wohin geht es jetzt?«, fragt er, als ich den Rückwärtsgang einlege.

Mit seinem Blick auf mir hole ich tief Luft und fahre los, entschlossen, die wesentlich größere Frage hinter seiner Frage zu ignorieren. »Wohin wir wollen«, antworte ich lächelnd. »Das Wochenende fängt gerade erst an.«

 

 

Der blaue Mond
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